Kälte und Stille. Meine Frau, Esther, ist Spanierin. Sie liebt die Stille. Da ist sie ganz anders als die meisten ihrer Landsleute. Aber mit Kälte kommt sie überhaupt nicht zurecht. Da ist sie wieder die Spanierin. Und noch dazu eine, die in Andalusien, der heißesten Ecke des Landes, zur Welt gekommen ist. Ihr inneres Thermometer beginnt erst bei 20 Grad.
Ich selbst lebe seit einem Vierteljahrhundert auf Mallorca. Aber ich kann immer noch locker mit Kälte umgehen. Die gefühlt arktisch kalten Winter meiner Kindheit in Deutschland haben mich bis heute abgehärtet.
Dafür macht mich Stille sofort nervös. Ich bin Radio-verrückt und liebe Musik. Der Krach rund um meinen Sender mitten in Palma, das ständige Gebrabbel in der Redaktion: Ich mag all das – und gerne auch alles gleichzeitig. Was soll ich in der Stille?
Die skeptische Reisevorbereitung
Dass ausgerechnet wir beide, die Spanierin und ihr Mallorca-Deutscher, zur Antarktis reisen wollen, das haben die Freunde nur belächelt. Und auch wir waren vor dieser Reise mehr als skeptisch.
Kälte und Stille. Nach diesen beiden Wochen am Südpol ist es nun Gewissheit: Noch nie in unserem Leben haben wir eine solche Kälte erlebt. Noch nie eine solche Stille. Und selten waren wir so unglaublich glücklich wie in diesen Tagen in der Antarktis. Diese Expedition in die Kälte und die Stille gehört heute zu den schönsten Reisen unseres Lebens.
Ich wette sogar, so geht es allen, die mit uns an Bord waren. Aber beginnen wir von vorne. In Ushuaia, der Hauptstadt der argentinischen Provinz Feuerland, der südlichsten Stadt der Welt.
Das elegante Schiff
„Estupendo“ sagt Esther zu mir, als wir die „SH Vega“ aus der Entfernung entdecken: „Großartig“. Unser Schiff liegt vertäut unten im Hafenbecken von Ushuaia fest. Im Hintergrund der Stadt rahmen die Feuerlandberge mit dem Monte Olivia die Szenerie ein.
Die „SH Vega“ strahlt eine unsagbare Eleganz aus. Und Sicherheit. Das Schiff wirkt ganz so, als könnte ihm weder Wind noch Wetter, weder Sturm noch Eiseskälte auch nur das Geringste anhaben. Marineblau der Rumpf. Der Aufbau schneeweiß.
Tatsächlich hat die Reederei Swan Hellenic die „SH Vega“ erst im Sommer 2022 in Betrieb genommen und mit der neusten Technik ausstatten lassen, die nicht nur Komfort, sondern auch höchstmögliche Sicherheit garantiert. Eisklasse „PC5“ kann das Schiff bewältigen. Stärker sind nur noch richtige Eisbrecher. Aber die verfügen über keine Sterneküche und keine Luxus-Kabinen.
76 Kabinen sind es, darunter sechs Suiten. Sie können 152 Gäste beherbergen. Das ist also kein Monster-Kreuzfahrtschiff, keine Massenabfertigung. Hier ist alles klein, fein, exklusiv. Es gibt eine finnische Sauna und einen Außen-Whirlpool, eine Bibliothek und ein Fitness-Center. Der Antrieb der „SH Vega“ ist diesel-elektrisch und extrem leise, um die Tierwelt nicht mehr als nötig zu stören. Abwässer landen im bordeigenen Klärwerk. Das macht dieses elegante Schiff außergewöhnlich umweltfreundlich. Und sicher. Und das ist auch bitter nötig.
Denn vor dem ersten Eisberg heißt das Abenteuer „Shake the Drake“. So nennen das die Seeleute, wenn sie die gefürchtete Drake-Straße passieren, das Gebiet zwischen Kap Horn und dem antarktischen Festland. Dort prallen Atlantik und Pazifik zusammen – und Luft und Wasser sind so voller Energie und Kraft, dass hier selbst die erfahrensten Kapitäne immer wieder an ihre Grenzen kommen. Auch uns beschert diese unwirtliche Passage Stürme mit bis zu Windstärke 8. Dazu mächtige Wellen, 8 bis 9 Meter hoch — bis zum Giebel eines Einfamilienhauses mit Obergeschoss. Von Stille keine Spur.
Gefürchtete Drake-Straße
Das Schiff kämpft. Stabilisatoren der neusten Generation – von einem Hochleistungscomputer gesteuert – verhindern das Allerschlimmste. Und trotzdem geht es unentwegt auf und ab. Auf und ab. Die Welt steht nicht eine Sekunde still. Zweieinhalb Tage lang. Auf und ab.
Von Tag zu Tag sehen wir weniger Mitreisende im Restaurant oder an der Bar. Beim Abendessen sitzen Esther und ich einmal fast ganz allein an einem der Tische. Woran das liegen kann? Vermutlich sind wir beide kein Stückchen seefester als die anderen Passagiere. Aber ein guter Freund und Arzt hat uns vor der Reise einen Trick verraten. „Nehmt Eure Reisetabletten bevor Ihr auch nur einen Fuß auf das Schiff setzt!“, hat er uns ermahnt. Und wir haben uns drangehalten. Wir wissen nicht, ob das der wirkliche Grund ist, warum uns die Drake-Straße nichts anhaben kann. Aber der Freund hat sich eine gute Flasche Rotwein verdient.
Das erste lebende Tier, dass uns auf der Strecke zum Südpol präsentiert wird, ist ein Fisch. Und den müssen wir küssen. Wir haben den Polarkreis erreicht, wir überqueren den 66. Grad südlicher Breite.
Hier steht die Polartaufe an. Inzwischen haben sich viele unserer Mitreisenden wieder gefangen, der Wind und die Wellen haben sich gelegt. Es ist stiller geworden. Fast alle haben sich an Deck versammelt. „Kiss the fish and take a shot“. Das kostet Überwindung. Aber keiner will der Hasenfuß sein, alle wollen sich „Atlantic Circle Explorer“ nennen und zuhause die Urkunde zeigen.
Es ist unser Tribut, den wir dem Meer zollen. Es ist Tradition. Und schließlich ist Neptun mit seinem Gefolge extra für uns dem eisigen Wasser entstiegen. Alle schließen die Augen, während sie den Fisch vorsichtig küssen. Und manche öffnen sie erst wieder, wenn der hochprozentige „Shot“ die Kehle heruntergelaufen ist – so, als wollten sie ganz sicher sein, mit dem Korn auch den befremdlichen Moment vollends runtergespült zu haben.
Der erste Eisberg
Und dann ist es endlich so weit. Tag zwei unserer Reise Richtung Südpol. Der erste Eisberg taucht auf. Erst nur weit am Horizont, aber er wächst von Minute zu Minute, in der wir ihm näherkommen. Blau schimmert er. Der Kapitän lässt die Maschinen stoppen
und wir spüren zum ersten Mal die totale Stille, die uns in den nächsten Tagen begleiten wird.
Alle Passagiere stehen an der Reling und schauen mit großen Augen auf dieses Ungetüm aus Eis. Keiner spricht. Wir sind ergriffen. Überwältigt. Und wir sind dem Berg so nahe, dass wir das Eis knirschen hören können. Esther flüstert kaum hörbar: „Estupendo!“
Kapitän Roman Obrist, ein Schweizer aus Sankt Moritz mit Wohnsitz Barcelona, lässt vor der Weiterfahrt Richtung Südpol die „SH Vega“ den ersten Eisberg unserer Reise einmal komplett umrunden – und das Staunen unter uns Passagieren wird immer größer. Am Abend, im Bord-Restaurant, ist die gewaltige Größe des eisigen Kolosses das Thema an allen Tischen. Seine Anmut. Die Ruhe, die er ausstrahlt. „Den ersten Eisberg deines Lebens wirst Du niemals vergessen!“, hat mir ein Kollege versprochen, der schon mehrfach das Nordpolarmeer durchkreuzt hat. Keiner von uns an Bord kann an diesem Tag ahnen, dass unser erster Eisberg der kleinste der ganzen Reise sein würde; dass wir in den nächsten Tagen noch regelrechten Giganten aus Eis begegnen werden.
„Beyond the Antarctic Circle“ – so lautet das Motto unserer Reise. Und jenseits des Polarkreises landen wir am dritten Morgen unserer Reise – etwas südlich des 68. Breitengrades. Stonington Island ist unser erstes Ziel. Die kleine Insel liegt in der Margeruite-Bay. Sie ist gerade mal 20 Hektar groß – und doch haben zuerst die Amerikaner um 1940 und wenig später die Briten in wetterfesten Hütten ihre Basis-Stationen dort gebaut. Und noch heute stehen sie dort – verlassene Zeugen der ersten Polarforscher.
„Beyond the Antarctic Circle“
Die Drake-Passage liegt hinter uns, der Sturm hat sich gelegt. Hier ist es fast windstill. Zum ersten Mal tragen wir die dicken, wetterfesten Parkas, die uns die Reederei zum Start der Reise geschenkt hat und ohne die wir es vermutlich keine Minute in dieser klirrend kalten Luft aushalten würden.
Minus 10 Grad sind es an diesem Morgen, die Wasser-Temperatur liegt bei knapp über Null. Das ist nichts gegen den eigentlichen Südpol. Im Landesinneren der Antarktis sind Tage mit minus 40 Grad die Regel.
Meine spanische Frau kann selbst noch nicht so recht glauben, dass sie bei diesem Eiswetter freiwillig draußen herumlaufen soll.
Bevor wir in die Zodiaks steigen, die uns zu Stonington Island bringen, desinfiziert die Crew unsere Stiefel. Dieses Stück der Erde gehört den Tieren – und wir Menschen sind die Eindringlinge. Wir sollen keine Viren, keine Bakterien, keine Krankheiten in diese fast unberührte Welt schleppen. Diese Reise soll ein Besuch im Einklang mit der Natur werden. Sie soll so nachhaltig wie möglich ablaufen. Darauf legt die Reederei „Swan Hellenic“ allergrößten Wert.
Im Idealfall kehren wir als Botschafter der Antarktis nach Hause zurück und helfen mit, die Natur ganz im Süden unseres Planeten zu bewahren.
Die Erhabenheit der Natur
Vorsichtig steigen wir in die kleinen Boote. Die Crew nimmt uns an die Hand bis wir alle sicher in unserem Schlauchboot sitzen. Und dann überschlagen sich die unvergesslichen Momente. Die Augenblicke, die wir nie mehr vergessen werden.
Kaum legt unser Schlauchboot ab, eskortieren uns auch schon die ersten Seelöwen. Und so viele! Zwei oder drei Dutzend mögen es sein. Sie tauchen immer wieder rechts und links des Bootes auf, verschwinden dann wieder unter Wasser, tauchen unter dem Rumpf hindurch – nur um wenige Augenblicke später erneut den Kopf Richtung Himmel zu strecken und neugierig zu uns herüberzublicken.
Watend durch die salzige Gischt und flaches Wasser über felsigem Boden betreten wir die Insel. Schon nach den ersten Schritten auf dem Schnee werden wir von einem regelrechten Empfangskommando begrüßt. Das besteht aus bestimmt 50 Pinguinen, die erst in einer schnurgeraden Reihe hintereinander auf uns zu gewatschelt kommen – und sich dann zwischen uns menschliche Besucher mischen, als wollten sie gleich einen Smalltalk beginnen. Man ist versucht, sich zu ihnen herunterzubeugen und sie zu streicheln. Besonders die jungen Pinguine mit ihrem puscheligen Gefieder sehen aus wie lebendige Kuscheltiere. Aber: Berühren und füttern sind strengstens verboten.
Und noch eines haben sie uns schon an Bord der „SH Vega“ mitgegeben: In der Antarktis haben Tiere immer Vorfahrt. So steht es sogar in den offiziellen Richtlinien des Sekretariats des Antarktis-Vertrages. „Walk slowly and carefully. Give animals the right-of-way. “
Bedeutung der Stille
Für einen Moment nimmt Esther mich zur Seite. Sie will mit mir die Stille spüren. Und tatsächlich: Kein Geräusch, kein Knacken, noch nicht mal ein Säuseln ist zu hören. Es ist totenstill – und doch so lebendig um uns herum. Wenige hundert Meter entfernt wälzt sich eine Seelöwen-Familie.
Erst als wir näherkommen, hören wir, dass sich die Jungtiere aneinander kuscheln und dabei vor Wonne regelrechte Wohlfühlgeräusche von sich geben. Das sind Momente, in denen man demütig wird. Weil die Natur es zulässt, dass wir dies erleben dürfen.
Auf unserer Reise werden uns noch unendlich viele dieser Momente ermöglicht. Als nach einer Woche der erste Wal direkt neben dem Zodiac auftaucht, ist solch ein Moment.
Wie der Wal trotz seines tonnenschweren Gewichts elegant durchs Wasser gleitet und uns seine mächtige Flosse zeigt.
Wie später die See-Elefanten in ihren dicken Körpern auf dem kalten, felsigen Boden liegen, schnaufen und miteinander schmusen. Das alles zeigt eine Erhabenheit, wie ich sie noch nie erlebt habe.
Abende an Bord
Die Abende an Bord sind ebenso gedämpft wie die Natur am Tag. 15 Köche aus aller Welt verwöhnen uns auf höchstem Niveau mit Spezialitäten aus den verschiedensten Ecken dieser Welt – von Bouillabaisse mit frischem Fisch bis hin zu sagenhaften Currys. Das ist ebenso 5 Sterne wert wie der diskrete und aufmerksame Service. Und selbstverständlich möchte hier niemand nach dem Abendessen Bingo spielen oder Karaoke machen. Stattdessen erklären uns Biologen und die Expeditionsleiter, was uns am nächsten Tag erwartet. Und anschließend treffen sich Passagiere und Offiziere an der Bar in der Observation-Lounge. Der Barkeeper heißt Francis und Angela spielt am Piano. Draußen gleiten im Mondlicht lautlos die mächtigen Eisberge vorbei.
An einem dieser Abende ziehen Esther und ich die dicken Parkas über und gehen nach draußen. Als wir an der Reling stehen, sagt Esther nur wieder „Estupendo“. Beeindruckend. Und dann schweigen wir. Und genießen das, was wir auf der unvergesslichen Reise mit diesem eindrucksvollen Schiff ganz neu kennengelernt haben und seitdem mit ganz neuen Augen sehen. Kälte und Stille.