Die ZDF-Dokumentation „AIDA: Die Insider – Tricks des Kreuzfahrt-Giganten“ wurde erstmals am 30. Mai 2023 gesendet und ist seit dem in der Mediathek des Senders abrufbar. In der Dokumentation schildern drei ehemalige Mitarbeiter von AIDA Cruises – unkenntlich gemacht durch Theatermasken – ihre Einblicke in das Unternehmen. In der 45-minütigen Sendung setzen die Autoren AIDA Cruises dabei einer Reihe von Vorwürfen aus.
CRUCERO: Herr Illes, in der ZDF-Reportage wurden der Reederei AIDA zahlreiche Vorwürfe gemacht, die unterschwellig eine Übervorteilung der Gäste enthalten. Beginnen wir mit dem Vorwurf, die Bordkarte als Einnahmequelle zu betrachten. Es heißt: „Aus einem simplen Zimmerschlüssel macht AIDA eine Einnahmequelle; der Clou: Erst am Ende wird abgerechnet.“ – Wie bewerten Sie diese Beschreibung?
THOMAS P. ILLES: Die Autoren hätten im Rahmen ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht vorab recherchieren sollen und dann festgestellt, dass die bargeldlose Abrechnung per Schlüsselkarte nicht nur bei AIDA, sondern bei den meisten Kreuzfahrtreedereien weltweit üblich ist und als Industriestandard gilt. Ähnliche Praktiken sind auch in vielen Hotels auf dem Festland üblich, wo die Gäste gegen Hinterlegung einer Kreditkarte verschiedene kostenpflichtige Zusatzleistungen aufs Zimmer buchen können und die Endabrechnung erst am Ende des Aufenthalts erfolgt.
Es stellt sich daher die Frage, warum das ZDF seine Zuschauer zu bevormunden scheint und ihnen die Fähigkeit zur Eigenverantwortung abspricht und der Reederei gleichzeitig die Bereitstellung eines effizienten und einfachen Abrechnungssystems vorwirft?
Es scheint, als wolle das ZDF die Zuschauer als wenig versierte Nutzer in einer digitalisierten Welt darstellen, die angesichts der vielen Kaufanreize und Versprechungen unserer Konsumgesellschaft Schwierigkeiten haben könnten, ihre Ausgaben zu kontrollieren. Natürlich gibt es Menschen, die mit diesen Herausforderungen nicht gut umgehen können, aber das gilt auch für andere Lebensbereiche.
Bezüglich des ohnehin immer verbreiteteren bargeldlosen Zahlungsverkehrs könnte man argumentieren, dass die Reederei vorausschauend gehandelt hat, um ihren Gästen ein zeitgemäßes und unkompliziertes Reiseerlebnis zu bieten. Es könnte umständlich und zeitaufwendig sein, jede Transaktion einzeln abzuwickeln, insbesondere wenn Bargeld im Spiel ist. Dies könnte sowohl für die Gäste als auch für die Besatzung belastend sein und einem positiven und entspannten Urlaubserlebnis im Wege stehen.
CRUCERO: Verleiten solche vereinfachten Bezahlvorgänge aber nicht tatsächlich zu mehr Ausgaben?
THOMAS P. ILLES: Vielleicht ja, aber das gilt nicht nur für Kreuzfahrtschiffe. Der Vorwurf der „Übervorteilung der Gäste“ erscheint daher konstruiert. Zudem wurde in der Sendung nicht erwähnt, dass die Gäste jederzeit über die AIDA-App oder das Kabinenfernsehen den Stand ihres Bordkontos einsehen können, was für Transparenz sorgt.
Wichtig ist aber auch, und das wurde in der Sendung ebenfalls nicht erwähnt, dass die Keycard neben der Funktion als Zahlungsmittel noch eine Reihe weiterer wichtiger Funktionen erfüllt.
Zum einen dient die Karte während der gesamten Reise als Zutrittskontrolle und Ausweis. Außerdem weiß die Crew jederzeit, wer sich wo an Bord und wer an Land befindet. Neben einem dadurch optimierbaren Bordangebot ist dies auch unter Sicherheitsaspekten und den strengen Sicherheitsvorschriften an Bord von Kreuzfahrtschiffen elementar. Zum Beispiel bei Themen wie Kriminalitätsbekämpfung oder Terrorabwehr.
So verwundert nicht, dass die Sicherheitsbilanz und die Gästezufriedenheit auf Kreuzfahrtschiffen zu den besten in der Mobilitäts‑, Freizeit- und Tourismusbranche zählen.
CRUCERO: Ein vermeintlicher Umsatzbringer sollen nach Inhalt der Reportage auch die Seetage sein. Verbunden wird die Aussage mit dem Hinweis, dass die Deckkapazität für Sonnenliegen nur für rund 1/3 der Gäste einen Liegenplatz ermöglicht. Was ist von diesem Vorwurf zu halten?
Seetage sind bei den Gästen sehr beliebt, da sie ausreichend Zeit haben, die Bordinfrastruktur ohne Zeitstress zu nutzen. Darüber hinaus ermöglichen Seetage eine Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit des Schiffes bis zum nächsten Ziel, wodurch Treibstoff eingespart wird. Dieses Konzept, welches unter dem Fachbegriff „Slow Steaming“ auch bei Frachtschiffen Anwendung findet, trägt zur Reduzierung der Emissionen bei.
Heutzutage fahren immer mehr Hochseeschiffe zunehmend langsamer, was zu mehr Seetagen führt. Diese Tatsache wurde in der genannten Sendung nicht erwähnt. Natürlich führen längere Aufenthalte an Bord in der Regel zu einem höheren Konsum der Gäste. Daher sind Seetage nicht nur für die Erholung der Gäste wichtig, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil des Geschäftsmodells und der Routen- und Umsatzplanung der Kreuzfahrtunternehmen.
Zur Person
Der Wirtschafts- und Kommunikationsberater THOMAS P. ILLES ist seit gut 30 Jahren mit der Hochseetouristik verbunden und gilt als einer der international profiliertesten Schifffahrtsanalysten und Kreuzfahrtexperten. Er ist Inhaber des in Zürich ansässigen Beratungsunternehmens thilles consulting GmbH, doziert an diversen Hochschulen, moderiert auf Fachmessen und Tagungen und ist regelmäßig als TV-Experte – unter anderem auch für das ZDF – zu sehen.
Hinsichtlich des Hinweises auf die begrenzte Kapazität für Sonnenliegen haben die Macher der Sendung einerseits Recht, unterschlagen aber zur besseren Einordnung die Nennung der Qualitätsklasse von AIDA Cruises und das in diesem Zusammenhang wichtige kreuzfahrtspezifische Qualitätskriterium „Platz pro Passagier“. Derartige Verkürzungen und sachlich irreführende Schlussfolgerungen halte ich für journalistisch unzulässig, zumindest aber für bedenklich.
CRUCERO: Sie wollen damit sagen, das AIDA nicht mehr Liegefläche bieten kann, da es dazu das falsche Produkt ist?
THOMAS P. ILLES: AIDA Cruises ist zweifellos ein hervorragendes Kreuzfahrtprodukt mit fairem Preis-Leistungs-Verhältnis im preissensiblen Volumen- und Familiensegment. Wäre dem nicht so, hätte die Reederei nicht so viel Erfolg.
Es handelt sich aber definitiv nicht um ein Premium- oder Luxusprodukt, was es aufgrund der Schiffsgröße, der vergleichsweise hohen Gästeanzahl verbunden mit den entsprechend preiswerten Angeboten gar nicht sein kann. Das ist eine nach objektiven und etablierten Industriestandards vorgenommene Qualitätseinstufung.
Eines der Qualitätsmerkmale von Luxus auf See ist Platz. Platz kostet aber Geld – auch auf Schiffen. Je nachdem, ob man sich – wie im Falle von AIDA – auf einem Schiff der Volumenklasse für den Massenmarkt, auf einem Schiff der Premium- oder Luxusklasse befindet, hat man weniger oder mehr davon.
Bei Kreuzfahrtschiffen gibt es eine unbestechliche Kennzahl dafür: die Passenger Space Ratio, kurz PSR. Hierfür wird die Bruttoraumzahl (BRZ) des Schiffs durch die maximale Gästezahl geteilt. Während große Schiffe im Volumensegment wie von AIDA Cruises im Durchschnitt über einen PSR-Wert um die 30 verfügen, sind es bei Luxusschiffen oft bis zu gut dreimal so viel.
Auf Volumenschiffen reicht die freie Deckfläche schlicht nicht aus, um allen Gästen gleichzeitig eine Liege zu ermöglichen. Dafür gibt es eine Fülle anderer Freizeiteinrichtungen an Bord. Anders ist es auf kleineren Schiffen der Luxusklasse mit ihren viel geringeren Gästekapazitäten. Den mitunter sehr viel höheren Aufpreis bezahlt man unter anderem für die opulenten Platzverhältnisse – da gibt es dann garantiert auch genug Liegen für jeden Gast.
„Es scheint, als wolle das ZDF die Zuschauer als wenig versierte Nutzer in einer digitalisierten Welt darstellen.“
Thomas P. Illes
Die Verteilung der Gäste an Bord von Schiffen mit hohem Passagieraufkommen funktioniert oft sehr viel besser, als es sich die meisten Laien ohne Kreuzfahrterfahrung vorstellen können. Kreuzfahrtpassagiere können das sicher bestätigen. Das in den Medien oder in der Literatur oft postulierte Märchen vom „zusammengepferchten Reisen mit Tausenden von Menschen in schwimmenden Plattenbauten“ erlebt man so gut wie nie. Und auf Luxusschiffen oder in den teureren Suitenbereichen, die auch immer mehr Volumenschiffe ihren Gästen anbieten, hat man dieses Problem nicht. Noch einmal: Wäre dem nicht so, wäre die Kreuzfahrtbranche nicht so erfolgreich, wie sie es ist.
CRUCERO: Sie selbst sind regelmäßig im TV – auch im ZDF – als Schifffahrts- und Kreuzfahrtexperte zu sehen – der Sender kennt Sie also. Wurden sie von der Redaktion im Vorfeld nicht angefragt, diese mit Ihrer Expertise zu unterstützen und genau solche Fachinputs zu liefern?
THOMAS P. ILLES: Nein, diesmal wurde ich nicht kontaktiert. Vermutlich passte das aus Sicht der Macher auch nicht in dieses spezifische Sendekonzept. Damit hätte ich grundsätzlich kein Problem, wenn das Endergebnis unter dem Label objektiver Informationsvermittlung nicht so himmelschreiende fachliche und qualitative Mängel sowie irreführende Suggestivbehauptungen aufweisen würde.
CRUCERO: Übervorteilungen sehen die Macher der Reportage auch bei den Getränkepakten und hier primär bei der Vorgabe, dass alle Bewohner einer Kabine ein Getränkepaket buchen müssen. Warum gibt es diese Regel überhaupt?
THOMAS P. ILLES: Bucht nur eine Person ein Getränkepaket, können die anderen Bewohner mittrinken. Das kann doch nicht im Interesse der Reederei sein. Eine Übervorteilung sehe ich hier nicht. Abgesehen davon zwingt Sie niemand, ein solches Getränkepaket zu buchen.
Wasser, Softgetränke sowie Bier und Hausweine werden zu den Mahlzeiten kostenlos gereicht – man kann also auch ohne Getränkepaket wunderbar über die Runden kommen. Darauf geht die Sendung aber mit keinem Wort ein. Und wer halt mehr will, zahlt dafür – wie an Land auch.
CRUCERO: Worauf sie aber eingeht, sind die bis zu 5.000 Kalorien Tagesaufnahme pro Passagier …
THOMAS P. ILLES: Man kann doch nicht ernsthaft der Reederei vorwerfen, wenn Leute mehr in sich hineinschaufeln, als ihnen guttut! Niemand zwingt Sie zur Aufnahme von täglich 5.000 Kalorien. Wer diese Selbstverantwortung, aus welchen Gründen auch immer, nicht aufzubringen vermag, sollte vielleicht lieber die Hände von Leistungen mit Vollpension oder All-Inclusive Arrangements lassen. Und zwar auch an Land.
CRUCERO: Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die AIDA-Landausflüge mit erheblichem Preisaufschlag. Wie ordnen Sie diesen Vorwurf ein?
Auch diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Wenn die Reederei als Vermittlerin und Organisatorin von Zusatzleistungen auftritt, dann ist es doch völlig legitim, wie in jedem Hotel an Land, dass die Reederei daran verdienen will und eine Marge einkalkuliert. Das ist Teil des Geschäftsmodells. Hätten sich die Macher der Sendung vorher informiert, wäre ihnen das klar gewesen.
Auf der anderen Seite, und das bleibt in der ZDF-Sendung unerwähnt, ermöglichen solche Bordeinnahmen eine Quersubventionierung des im Vergleich zu vielen Landangeboten unbestritten hervorragenden Preis-Leistungs-Verhältnisses der Basiskreuzfahrtangebote. Und auch hier gilt: Niemand zwingt Sie, die von der Reederei angebotenen Ausflüge zu buchen. Wer aber die Recherche und Organisation eines Ausflugs der Reederei überlässt, zahlt den Aufpreis.
CRUCERO: Umwelt und Nachhaltigkeit werden in der Reportage auch angesprochen. Einer der Experten sieht es als „Greenwashing“ an, den Blauen Engel zu tragen und Green Cruising ans Schiff zu schreiben, aber dann aus Kostengründen mit Marinediesel zu fahren. Machen die Autoren hier eine zutreffende Aussage?
THOMAS P. ILLES: Hier haben die Autoren tatsächlich recht. Viele Reedereien — nicht nur im Kreuzfahrt‑, sondern auch im Fährbereich — mussten aufgrund der durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelösten Energiekrise und der damit verbundenen Preisexplosion für Liquified Natural Gas, kurz LNG, wieder auf Diesel umstellen. Dies ging so weit, dass z.B. die norwegische Fährreederei Fjord Line die Maschinenanlage ihrer beiden bisher reinen LNG-Schiffe „Stavangerfjord“ und „Bergensfjord“ aufwendig und kostenintensiv durch eine Dual-Fuel-Konfiguration ersetzen musste, was ökologisch wiederum einen Rückschritt bedeutet.
Einige AIDA-Schiffe verfügen von Anfang an über solche Dual-Fuel-Anlagen. Aber auch bei LNG handelt es sich um einen zwar emissionsärmeren, aber fossilen Treibstoff — bis zur flächendeckenden Einführung wirklich grüner Treibstoffe haben wir also immer noch CO₂-Emissionen. Was man aus meiner Sicht AIDA Cruises und Teilen der Kreuzfahrtbranche generell in diesem Zusammenhang vorwerfen muss, ist die zuweilen intransparente, unausgewogene und des Öfteren irreführende Kommunikation.
„Verkürzungen und sachlich irreführende Schlussfolgerungen halte ich für journalistisch unzulässig, zumindest aber für bedenklich.“
Thomas P. Illes
CRUCERO: Als Kommunikationsberater beraten Sie internationale Firmen, politische Institutionen und Führungskräfte in- und außerhalb der maritimen Wirtschaft. Würden Sie der Kreuzfahrtbranche generell zu einer proaktiven Informationspolitik raten?
THOMAS P. ILLES: Absolut. Transparenz, Ehrlichkeit, Ausgewogenheit, Kritikfähigkeit und Authentizität gehören zum Gebot der Stunde. Alles andere ist nicht mehr zeitgemäß.
In weiten Teilen der vorwiegend US-geprägten Kreuzfahrtindustrie wird nach wie vor sehr konservativ und altbacken kommuniziert. Will heißen: wenig, abwehrend bis gar nicht – oder dann übertrieben selbstherrlich, selbstbeweihräuchernd und schönfärberisch.
CRUCERO: Können Sie dazu Beispiele nennen?
THOMAS P. ILLES: Bei der Icon of the Seas, dem bald weltgrößten Kreuzfahrtschiff von Royal Caribbean, das im kommenden Jahr in Dienst gestellt wird, wurde kommunikativ bisher vor allem auf die Größe und das Bespaßungsangebot an Bord fokussiert, ohne deutlicher auf die umwelttechnischen Innovationen mit Signalwirkung für die übrige Schifffahrt hinzuweisen, mit denen der Neubau durchaus aufwarten kann.
In Zeiten von Klimakrise und Dekarbonisierung kann dies zu einem Reputationsschaden für die gesamte Branche führen.
Das andere Extrem lieferte MSC Cruises: Anlässlich der kürzlichen Indienststellung der MSC Euribia wurde werbewirksam der Beginn des Zeitalters klimaneutraler Kreuzfahrten suggeriert. Trotz den unbestrittenen Fortschritten und Teilerfolgen auf dem Weg dorthin hält dies einem Faktencheck natürlich noch keineswegs stand. Prompt rief dies auch wieder zahlreiche Medien auf den Plan, die die Behauptungen von MSC widerlegten oder die „absurde, dekadente und nicht mehr zeitgemäße Gigantomanie“ einer Icon of the Seas scharf kritisierten.
Darauf sollte man als Reederei oder Branche vorbereitet sein und entsprechend transparenter, faktenbasierter und vielleicht mit etwas mehr Demut und Bescheidenheit informieren – da hätte sich die Branche in den letzten Jahren viel Ärger und eine Menge unnötiger Zusatzkosten ersparen können.
Auch AIDA Cruises hat in der Vergangenheit im Bereich der Umwelttechnologie Dinge versprochen, die nicht eingehalten werden konnten, was ebenfalls zu entsprechender Kritik und Häme in den Medien geführt hat. Das Unternehmen kommuniziert heute zum Teil deutlich besser, wenn auch – wie das Beispiel ZDF zeigt – noch nicht immer mit der gebotenen Konsequenz und Offenheit.
CRUCERO: Trotzdem sind die Schiffe gut gebucht – teilweise verzeichnen die Reedereien Rekordbuchungen, die Nachfrage nach Kreuzfahrten scheint ungebrochen…
THOMAS P. ILLES: Das ist richtig. Die Branche, da bin ich mir sicher, wird auch in naher Zukunft ihre Schiffe füllen und wieder große Erfolge feiern. Aber wird das auch noch in fünf oder zehn Jahren der Fall sein, wenn jüngere Generationen nachrücken und sich gesellschaftliche Werte ändern?
Schließlich sind die Neubauten von heute darauf ausgelegt, die nächsten dreißig Jahre Gewinne zu erwirtschaften. Kurzfristig mögen die Marketingstrategien und Werbeversprechen der Reedereien in altbewährter Manier noch eine Weile funktionieren.
Langfristig laufen sie jedoch Gefahr, das Misstrauen gegenüber der Kreuzfahrtindustrie weiter zu schüren und ein zunehmend verzerrtes Branchenbild mit noch mehr Orientierungslosigkeit, Vertrauensverlust und Kritik in Medien und Bevölkerung zu erzeugen. Dies wäre eigentlich unnötig, denn die Branche hat genügend positive Erfolgsmeldungen zu bieten, die auch objektiven Kriterien standhalten. Meines Erachtens sollte es der Branche aber nicht egal sein, wenn sich Kreuzfahrer aufgrund eines unzureichenden Reputationsmanagements zunehmend schlecht und angegriffen fühlen und sich für ihre Urlaubsvorliebe rechtfertigen müssen.
CRUCERO: Zum Thema Reputation passt der Dokumentationsteil, der sich mit der Crew, ihrer Arbeitszeit und Entlohnung beschäftigt. Da wird unterschieden zwischen EU- und Nicht-EU-Mitarbeitern, die einen bekommen 7 Euro Stundenlohn und Urlaubsanspruch, die anderen nur 4 Euro Stundenlohn und keinen Urlaub. Könnten Sie die Zusammenhänge erklären?
THOMAS P. ILLES: Zunächst einmal: wir leben in einer globalisierten Welt. Und da sollten wir uns – auch die Redaktion des ZDF und seine Zuschauer – ehrlich machen: der Wohlstand in unseren Industrienationen, auch das Wachstum des weltweiten Tourismus, beruhen im Wesentlichen auf das Ausnutzen eines extremen Ungleichgewichts zwischen Arm und Reich. Wenn irgendwelche Produkte oder Dienstleistungen zu Preisen angeboten werden, damit sich diese weite Teile der Bevölkerung leisten können, dann zahlen in der Regel immer auch die Mitarbeiter dieser Anbieter – unter anderem in Form niedriger Löhne – die Zeche dafür.
Kreuzfahrtreedereien sind global agierende Offshore-Konzerne mit entsprechend weltweitem Zugriff auf billige Arbeitskräfte. Aber auch das gilt nicht nur für Kreuzfahrtschiffe, sondern auch für viele beliebte Urlaubsregionen an Land. Tatsächlich stammt auf Kreuzfahrtschiffen die überwiegende Mehrheit der Besatzung, abgesehen von Offizieren und Führungskräften, aus Schwellen- oder Drittweltländern. Für viele von ihnen eröffnen sich Chancen und Perspektiven, die es in ihren Heimatländern nicht gibt. Und die es – vergessen wir das bitte nicht – auch für viele Working Poor und von Altersarmut Bedrohte hierzulande nicht gibt. Deshalb sind Arbeitsplätze auf Kreuzfahrtschiffen so begehrt.
CRUCERO: Dennoch sind die Arbeitsbedingungen an Bord zum Teil sehr hart und die Löhne für einige Besatzungsgruppen sehr niedrig. Beleuchten die Autoren der Sendung hier nicht zu Recht einen wichtigen Aspekt?
THOMAS P. ILLES: Die Löhne der Nicht-EU-Mitarbeiterinnen und ‑Mitarbeiter mögen nach unseren Maßstäben unangemessen niedrig erscheinen, doch im Vergleich zu den Verhältnissen in Ländern wie den Philippinen, Indien, Myanmar oder Indonesien entsprechen sie leider — oder glücklicherweise — einem Vielfachen dessen, was sie in ihren Heimatländern bei gleichzeitig niedrigeren Lebenshaltungskosten verdienen könnten. Das wird in der Sendung ausgeklammert.
CRUCERO: Ist das der Grund, weshalb die Reedereien nach wie vor Crewmitglieder zu diesen Arbeitsbedingungen finden?
THOMAS P. ILLES: Genau das ist der Punkt. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich das gut finde, dann muss ich Ihnen ganz klar antworten: Nein, natürlich nicht! Aber so ist die Welt nun einmal. Zumindest im Moment noch. Und vor allem: Wir alle sind mit unserem Konsum- und Verbraucherverhalten dafür mitverantwortlich. Auch wenn mir ein ZDF-Redakteur neulich bei einem Dreh riet, komplexe Themen so zu erklären, dass Oma vor dem Bildschirm sie auch nach dem zweiten Glas Rotwein noch versteht, bin ich überzeugt, dass man den Zuschauern eine solche Differenzierung hätte zumuten können und müssen. Aber das hätte der Sendung den Sensationscharakter genommen – und das war offensichtlich nicht gewollt.
CRUCERO: Aber ist die Kritik nicht insofern berechtigt, als dass AIDA mit gutem Beispiel vorangehen und zumindest einen freien Tag pro Woche und weniger lange Einsatzzeiten gewähren könnte?
THOMAS P. ILLES: Absolut – neun oder teilweise noch mehr Monate Einsatzzeit für bestimmte Besatzungskategorien fernab der Familie mit wenig bis gar keiner Freizeit halte ich bei allen oben genannten Vorteilen für eine Katastrophe! Hier gibt es in der Tat noch viel Verbesserungspotential.
Das würde aber das Reisen verteuern. Weniger Reisende wären die Folge. Weniger Reisende bedeuten aber auch weniger Arbeitsplätze.
Die Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, in welche existenzielle Not Heerscharen von Arbeitnehmern gerade in Ländern, die stark vom Tourismus abhängig sind, geraten, wenn die Reiseströme einbrechen. Damit wäre niemandem geholfen.
Hinzu kommt: Für gewinnorientierte Unternehmen wie Kreuzfahrtreedereien bedeutet jede freiwillige Verteuerung der Betriebskosten, die nicht auch für die Wettbewerber gilt, einen erheblichen Wettbewerbsnachteil, der von den Aktien- und Kapitalmärkten gnadenlos bestraft wird.
Leider belohnen die Marktmechanismen im modernen Kapitalismus noch selten vorausschauendes, soziales Handeln. Es sei denn, die Reeder finden ohne bessere Arbeitsbedingungen kein Personal mehr für ihre Schiffe oder bessere Arbeitsbedingungen für die Besatzungen werden von den Passagieren konkret in Form von höheren Marktanteilen und Renditen honoriert. Dann würde das sofort umgesetzt.
Im Moment sind solche Tendenzen aber leider noch nicht in einem marktbestimmenden Maße erkennbar. Nach wie vor wollen wir alle möglichst billig reisen, essen, einkaufen, konsumieren.
Bliebe noch die Schaffung einer einheitlichen, für alle Marktteilnehmer geltenden strengeren Gesetzgebung – dann hätten wir das notwendige Level Playing Field.
CRUCERO: Am Ende gewinnt man den Eindruck, dass bei dieser ZDF-Reportage Infotainment über Information steht. Wie sehen Sie das?
THOMAS P. ILLES: Vor allem störte mich, dass man sich gut 43 Minuten Zeit nimmt, um einseitig, theatralisch und mit teilweise geradezu groteskem Klamauk bestimmte Thesen zu präsentieren, ohne eine neutrale, kritische und fundierte Gegenposition zur Einordnung der präsentierten Themen einfließen zu lassen. Stattdessen beschränkt sich die Sendung auf einfache, populistische Stimmungsmache. Hier erweisen sich die Macher der Sendung als wenig differenzierende Quotenjäger, denen es offenbar vor allem um medienwirksames Bashing geht. Das ist reißerischer Boulevardjournalismus im Stile billiger Privatsender, aber aus meiner Sicht eines gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Senders wie dem ZDF mit seinem proklamierten Qualitätsanspruch — wie ich ihn sonst kenne und schätze und mit dem ich gerne zusammenarbeite — nicht würdig.
CRUCERO: Glauben Sie oder haben Sie die Hoffnung, dass künftige ZDF-Berichte über Kreuzfahrten wieder besser werden?
Ich hoffe sehr, dass dieser Beitrag ein einmaliger Ausrutscher war, dass das ZDF sich weiterhin zu seinen ursprünglichen Qualitäten und Tugenden im Sinne des öffentlich-rechtlichen Auftrags bekennt und dass diese Sendung nicht stellvertretend für eine Art Infotainment steht, die zukünftig Einzug in das redaktionelle Programm des ZDF hält. Wenn das die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sein soll, dann gute Nacht …
CRUCERO: Kreuzfahrten haben unbestreitbar einen Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft und es gibt auch Dinge, die man kritisieren kann. Wo bestehen aus Ihrer Sicht tatsächlich Probleme und wie gravierend sind diese?
THOMAS P. ILLES: An erster Stelle sind hier die Dauerbrenner wie ökologische Nachhaltigkeit jenseits von bloßem Green Washing oder Overtourism zu nennen. Umweltthemen und Dekarbonisierung betreffen aber nicht nur Kreuzfahrtreedereien, sondern die Schifffahrt generell, über die 90 Prozent des Welthandels abgewickelt werden. Hier gilt ganz einfach: No shipping — no shopping! Und gerade die viel gescholtenen Kreuzfahrtschiffe, die nicht einmal ein Prozent der Welthandelsflotte ausmachen, erweisen sich oft als Innovationstreiber für fortschrittliche Umwelttechnologien in der gesamten Hochseeschifffahrt.
Dies erkennt mittlerweile auch der sonst sehr kreuzfahrtkritische Naturschutzbund Deutschland (NABU) an. Auch die jüngst beschlossene Einbeziehung der Schifffahrt in den Emissionshandel wird ihre Wirkung nicht verfehlen.
Die Transformation muss aus meiner Sicht aber schneller und konsequenter vorangetrieben und unter anderem durch neue, strengere Regeln von allen Marktteilnehmern gleichermaßen getragen werden.
Denn nach Meinung vieler Experten befinden wir uns bereits im Klimanotstand, Neutralität reicht nicht aus, wir müssen CO2 entziehen. Dazu gehört, dass die Maßnahmen auch Dinge wie den Schiffbau selbst, z.B. mit grün zu produzierendem Stahl, und die ökologisch vertretbare Verschrottung alter Schiffe umfassen, bevor man vollmundig den mittlerweile zum Modewort mutierten Begriff „Zero Emission“ in den Mund nimmt.
„Einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt es leider auch bei Kreuzfahrten nicht.“
Thomas P. Illes
CRUCERO: Sehen Sie noch weitere Probleme?
THOMAS P. ILLES: Ja, durchaus. Zum Beispiel, dass die Destinationen, die von Kreuzfahrtschiffen angelaufen werden, in die lokale Wertschöpfungskette eingebunden werden und stärker am wirtschaftlichen Erfolg partizipieren können. Aber auch hier tut sich einiges, nicht zuletzt, weil Kreuzfahrtpassagiere zunehmend authentische, lokale Erlebnisse nachfragen. Und wie bereits erwähnt, bleibt die Kommunikation und öffentliche Wahrnehmung der Branche eine große Herausforderung.
CRUCERO: Sie lehren unter anderem Tourismus, Kommunikation und Wirtschaft an verschiedenen Hochschulen. Erleben Sie die von Ihnen angesprochene kritische Haltung auch bei den Studierenden?
THOMAS P. ILLES: An den Hochschulen ist das Thema Kreuzfahrten nicht unumstritten. Allerdings nicht so sehr bei den Studierenden. Die sind zwar, wie ich finde, zu Recht oft kritisch. Aber mit ihnen kann man mit Offenheit, Empathie, Kritikfähigkeit und ‑bereitschaft und jenseits von dumpfen PR-Floskeln immer wieder in einen Dialog und konstruktiven Austausch treten, um auch bei diesen zukünftigen Entscheidungsträgern und Meinungsbildnern Interesse für Kreuzfahrten zu wecken. Das sind genau die kommunikativen Eigenschaften, die sich auch die Kreuzfahrtindustrie und die Schifffahrt im Allgemeinen noch mehr auf die Fahnen schreiben sollten.
CRUCERO: Sind es also eher die Lehrenden, die Schwierigkeiten bereiten?
THOMAS P. ILLES: Meiner Erfahrung nach ganz klar ja. Generell fällt auf, dass gerade in intellektuellen Kreisen, oder zumindest in solchen, die sich dafür halten, das Phänomen des Kreuzfahrt-Bashings zum guten Ton und zum demonstrativen Beweis intellektueller, kultureller und ideologischer Überlegenheit zu gehören scheint.
Am lautesten schreien erfahrungsgemäß diejenigen, die noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff waren, keine Ahnung von der Branche haben oder sich unreflektiert von Vorurteilen leiten lassen. Neben prominenten Influencern aus Bereichen wie Soziologie, Philosophie, Feuilleton, Journalismus, Zukunftsforschung etc. finden sich darunter auch etliche Hochschuldekane, noch dazu – für mich völlig unverständlich – ausgerechnet von touristischen Hochschulen. Neutral-unabhängig wird Bildung so sicher nicht vermittelt.
Man kann Kreuzfahrten mögen oder nicht. Und man darf, ja man muss sich auch einen kritischen Blick auf diese Urlaubs- und Mobilitätsform bewahren. Aber bitte immer sachlich, ausgewogen, faktenbasiert und ausreichend differenziert. Einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt es leider auch bei Kreuzfahrten nicht. ■
Interview: Tobias Lange-Rüb